„Ich bin nicht willkommen.“
Als ich diesen Satz auf dem Resilienz-Kongress hörte, traf er mich mitten ins Herz. Die Referentin Lisa Wiescher nannte ihn als Beispiel für das Lebensgefühl von Menschen mit Entwicklungstrauma. Von Entwicklungstrauma hatte ich bis dahin noch nie etwas gehört, aber dieser Satz - der begleitete mich schon ein Leben lang. Ich hatte ihn schon tausendfach gedacht. Er war wie ein alter Bekannter, der immer mal wieder vorbei kommt und dessen Besuch nicht erfreulich ist, sondern der einen immer mit einem unguten Gefühl zurücklässt.
Dieses Gefühl von Nicht-gewollt-sein hat es mir lange schwer gemacht, mit meiner Selbstständigkeit als Coachin voran zu kommen. Werbung zu machen, auf Menschen zu zu gehen, ihnen von mir und meinem Angebot zu erzählen, war extrem herausfordernd für mich (und ist es noch). "Wer bin ich schon, dass ich glaube, anderen Menschen helfen zu können? Ich habe ja noch nicht mal meine eigenen Probleme alle gelöst" , dachte ich und blieb lieber in meinem stillen Kämmerlein. So wurde es mit meiner „Karriere“ als Coachin es erstmal nix.
Statt dessen landete ich „seltsamerweise“ immer wieder in Arbeitsverhältnissen, in denen ich nicht gewollt war. Vom Matheunterricht für schulmüde Jugendliche bis zu Maßnahmen für Arbeitssuchende - die meisten, die in meinem Unterricht oder meinen Trainings saßen, nahmen nur daran teil, weil sie sonst Sanktionen befürchten mussten. So arbeitete ich jahrelang mit Menschen, die das, was ich zu geben hatte, gar nicht wollten oder brauchten.
Das Ergebnis: Ich wurde immer unzufriedener mit meiner Arbeit. Und mit mir. Eigentlich wollte ich doch Menschen dabei helfen, ihren eigenen Weg zu finden und zu gehen. Dabei schaffte ich das noch nicht mal selbst - weil ich mich nicht traute, sichtbar zu werden.
Ich blieb unsichtbar.
Jetzt erfuhr ich im Vortrag von Lisa Wiescher, dass Lebensgefühle wie „Ich bin unsichtbar“, „Ich darf das nicht“, „Ich darf mich nicht zeigen, ich muss mich verbergen“ darauf hin deuten können, dass Menschen ein Entwicklungstrauma haben.
Diese Frage ich mir bis dato nie gestellt. Warum auch. Unter Trauma verstand ich bisher etwas, was durch das Erleben wirkich schlimmer Ereignisse wie Krieg, Gewalt oder Naturkatastrophen entsteht. Und sowas ist mir zum Glück nicht zugestoßen. Also konnte ich doch nicht traumatisiert sein, oder?
Ich erfuhr, dass mein bisheriges Verständnis von Trauma dem Schocktrauma entspricht und dass es noch weitere Arten von Trauma gibt: Bindungs- und Entwicklungstrauma. Dabei handelt es sich um frühe Traumatisierungen, die durch prägende Erfahrungen in der Kindheit (besonders in den ersten Lebensjahren), bei denen die grundlegenden Bedürfnisse eines Kleinkindes nach Bindung und Sicherheit nicht ausreichend erfüllt werden, entstehen können.
Bei solchen Erfahrungen kann es sich um so alltägliche Dinge handeln, wie einen Säugling alleine im Bett schreien zu lassen, weil er ja lernen soll, alleine einzuschlafen, was früher ein ganz normales "Schlaftraining" war. Inzwischen weiß man, dass das für ein Kind eine extremen Stress auslösende Erfahrung sein kann, die zu Verlassens- und Todesangst führen kann und somit traumatisierend wirkend kann.
So kommt es, dass Menschen, die unter frühen Traumafolgen leiden, dies oft selbst nicht wissen, weil sie das, was sie als Kinder erlebt haben, als normal bewerten oder weil es so früh passiert ist, dass es nur als implizite Erinnerung im Körper gespeichert ist.
Mir wurde klar, dass ich wohl zu diesen Menschen gehörte.
Ich saß vorm Laptop und die Tränen liefen mir über’s Gesicht. Plötzlich ergab so vieles in meinem Leben einen Sinn: Meine Angst vor Veränderung, meine Angst vor Sichtbarkeit, quälende Selbstzweifel. Das Gefühl, mir immer wieder selbst im Weg zu stehen, innerlich blockiert zu sein, so oft nicht zu schaffen, was ich eigentlich tun wollte und manchmal gar nicht zu wissen, was ich überhaupt wollte.
Das war im März 2022.
Bis dahin hatte ich, was meine Selbstständigkeit anging, mit Hilfe der NeuroGraphik schon einiges erreicht. Ich hatte begonnen Blog-Artikel zu schreiben, erste Workshops zu geben und sogar schon meinen ersten NeuroGraphik Basiskurs durchgeführt. (Mehr über meine "Heldenreise in die Sichtbarkeit mit NeuroGraphik" kannst du hier lesen.) Aber das "Rausgehen" fiel mir immer noch sehr schwer und kostete mich viel Energie.
Jetzt, wo ich begann, mehr über frühe Traumatisierungen und ihre Auswirkungen zu lernen, begann ich so einiges zu verstehen.
Früher dachte ich, dass ich nicht ok bin, so wie ich bin und dass ich meine Angst „weg machen“ muss. Dafür hatte ich so einiges probiert: Kinesiologie, Aufstellungen, NLP, WingWave, systemisches Coaching... Vieles brachte mich ein bisschen weiter, vor allem lernte ich mich selbst immer besser kennen. Aber der Durchbruch mit meiner Selbstständigkeit ließ noch immer auf sich warten. Ich wurschtelte halbherzig vor mich hin, schob vieles vor mir her (z. B. meine Website erstellen) und suchte den Fehler stets bei mir. War ich „beratungsresistent“? Wollte ich es einfach nicht genug? Oder war ich einfach zu ängstlich?
Heute weiß ich, woher diese Angst kommt. Und dass die Verhaltensmuster, die sich daraus entwickelt haben, frühere Überlebensstrategien sind, die sich aus einem guten Grund entwickelt haben. Allein dieses Wissen empfinde ich schon als extrem entlastend.
"Das Wissen über Trauma hat die Kraft, die Welt zu verändern." Verena König
Meine Welt hat dieses Wissen definitiv schon verändert. Ich habe endlich das Gefühl, am richtigen Platz zu sein und mit meiner Arbeit genau die richtigen Menschen zu erreichen und etwas bewirken zu können. Und das habe ich auch zu einem großen Teil der NeuroGraphik zu verdanken. Ganz "zufällig", habe ich damit vor fast vier Jahren eine Methode entdeckt, die mir dabei geholfen hat, meine belastenden emotionalen Erinnerungen zu verarbeiten. Hier kannst du mehr darüber erfahren, wie die NeuroGraphik wirkt.
Meine eigene Geschichte und die Erkenntnis, dass so viele Menschen unter Traumafolgen leiden, ohne es zu wissen, haben mich motiviert im September 2023 die Ausbildung Neurosystemische Integration® - traumasensibles Coaching bei Verena König zu beginnen.
Seit dem habe ich schon so viel darüber gelernt, wie (und warum!) wir Menschen so ticken, wie wir ticken. Ich glaube, dass es für alle Menschen - und vor allem für die, die mit Menschen arbeiten - wichtig ist, mehr über Trauma zu lernen. Wir müssen wissen, wie wir Traumafolgen erkennen und wie wir damit umgehen können, ohne zu überfordern oder zu triggern. Wir dürfen alle traumasensibler werden.
Wenn du dir jetzt die Frage stellst, ob du vielleicht auch unter Traumafolgen leidest, ohne es zu wissen, habe ich hier ein paar Empfehlungen für dich, die du für deine Forschungsreise nutzen kannst:
Zum Schauen: Die Aufzeichnung des Beitrags von Lisa Wiescher auf dem Resilienzkongress 2022 hat mich sehr bewegt.
Zum Hören: Der Podcast von Verena König ist eine reichhaltige Fundgrube rund um das Thema Trauma. Zum Thema Bindungs- und Entwicklungstrauma kann ich dir diese Folgen empfehlen:
Zum Lesen: Das Buch von Verena König eignet sich, wenn du ein bisschen tiefer in das Thema einsteigen möchtest.
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Ich freu' mich auf dich!
Julia
Sehr interesannt. Ich denke, das ist ein Thema, dem ich weiter nachgehen sollte.
Vielen Dank für den Beitrag!
Jean von Allwörden
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